Frau Ranitzki,
weshalb schreiben Sie?
Ich finde es toll, mir Menschen auszudenken und sie in bestimmte
Zusammenhänge zu stellen. Dann schaue ich mir an, was sie daraus machen.
Was ist das Besondere
an Ida?
Im Kongo heißt es, dass ein Mensch das ist, was seine
Zusammenhänge aus ihm machen. Also: Wer kennt den Menschen, wohin gehört er,
was ist seine Aufgabe? Meine Ida will eigentlich gar keiner kennen. Sie wurde
eher aus Nachlässigkeit geboren und da steht sie nun und versucht, einen Platz
für sich zu finden. Das, was letztlich jeder tut.
Idas vorerst einzige
Bezugsperson ist ihre Mutter, eine Trinkerin mit einem erstaunlichen
Erziehungskonzept.
Ja! Einmal erklärt Idas Mutter ihren Trinkkumpanen, wie sie
ihr Kind erzieht. Sie leitet die Kindererziehung ab von den Erfahrungen, die
sie mit ihren zwei Katzen gemacht hat und erklärt: „Katzen pinkeln dir in jeden
Blumentopf und dann kriegen sie eins aufs Hinterteil und dann fauchen sie dich
an. Natürlich pinkeln sie das nächste Mal wieder in den Gummibaum, wenn man
nicht hinguckt. Und genauso ist es mit der Ida!“
Idas besonderes Schicksal ist, dass es gar keine
Anhaltspunkte gibt, an denen sie sich orientieren könnte. Nur massenweise
Widerstände. Das hat mich gereizt. Ida ist nicht besser oder schlechter als
andere Menschen, nur einen Tick einsamer und deshalb vielleicht freier in ihren
Entscheidungen.
Zu Beginn der
Geschichte ist Ida ein Kind. Diese Entscheidungen kann ein Kind doch gar nicht
treffen!
Das ist richtig, und das ist auch Idas Dilemma. Erst einmal
hat sie nur eine Aufgabe: Sie darf nicht untergehen. Und das ist gar nicht so
einfach im Dorf.
Sind Sie der Ansicht,
dass das Dorf ein schlechter Platz für Kinder ist?
Meine Kinder wuchsen auch auf dem Land auf. Hier gibt es die
bessere Luft, die größeren Wälder und die kleineren Kindergärten. Unsere Kinder
konnten im Hof und auf der Straße spielen. Das finde ich gut, und meine Kinder
fanden es auch gut. Sie mochten es, dass sie bekannt waren. Aber natürlich
findet nicht jeder im Dorf die Freiheit, sich ungestört zu entfalten.
Hier finden Sie unsere Gesellschaft in konzentrierter Form. Eine Art Mikrokosmos,
von allem etwas. Trotz der Gleichheit, die uns in unserem Grundgesetz
garantiert wird, sind wir tatsächlich höchst ungleich, schon von Geburt an.
Also habe ich mir ein prototypisches Dorf ausgedacht. In Idas Dorf sind die
Startplätze sehr sichtbar vergeben. Ida lebt in den Blocks und viele der
Menschen, mit denen sie sich konfrontiert, leben einfach hübscher und
gemütlicher. Die haben die Poleposition, Ida zockelt auf ihrem ollen geliehenen
Fahrrad hinterher. Um Lebenserfahrung zu sammeln, ist das Dorf sicherlich ein
idealer Platz.
Tut Ida ihnen leid?
Nein. Sie wurschtelt sich durch ihr Leben und sie macht
viele Fehler. Sie verletzt Menschen, die ihr wichtig sind, obwohl gerade sie
wissen sollte, dass das besonders weh tut. Aber sie lernt. Wie wir alle. Mehr
kann man von Ida auch nicht verlangen.
Ida wurde in den
1970ern geboren. Kann sie denn noch abbilden, wie es den Kindern und
Jugendlichen heute ergeht?
Früher war Idas Schicksal eher ein Einzelphänomen. Ida ist
in ihrem Dorf das einzige deutsche Mädchen, das man dem Prekariat zurechnen
würde, wie es heute genannt wird. Heute haben wir eine zunehmende Verarmung der
Gesellschaft und damit hat sich die Situation vor allem für die Kinder sehr
verschärft.
Grundsätzlich denke ich, dass arme Kinder heute ähnlichen
Herausforderungen wie Ida gegenüber stehen. Sie werden nicht als Person
beurteilt, sondern als Teil einer wirtschaftlich unergiebigen Gesellschaftsschicht,
der man per se erst mal gar nichts zutraut.
Was sicherlich früher anders war: Ida ging noch in denselben
Kindergarten und dieselbe Schule wie die anderen Dorfkinder. Heute gibt es das
Phänomen, dass „die aus den Blocks“ von den Kindern wohlsituierter Haushalte in
den Bildungsanstalten eher getrennt sind. Ida musste sich noch mit denen
messen, deren gesellschaftlicher Erfolg wahrscheinlich scheint. Und das hat ihr
letztlich geholfen, denn sie hat sich in der Schule viel Mühe gegeben. Ida
hatte noch reelle Aufstiegschancen. Die sind vielen Kindern heute verwehrt, und
das ist erstens höchst unfair und zweitens eine Vergeudung von Potential, wenn
man es wirtschaftlich betrachtet. Kinder armer Leute sind nicht per se dumm,
auch wenn das viele damals schon vermuteten und es auch heute noch eine weit
verbreitete Meinung ist.
Möchten Sie eine
Botschaft in Ihrem Buch transportieren?
Nein, eine Botschaft habe ich nicht, das fände ich anmaßend.
Ich denke, dass viele Menschen sich in Kleinigkeiten wiederfinden können, die
sie in Idas Geschichte lesen werden. Meiner Meinung nach ist es tröstlich, zu
lesen, dass andere Menschen auch einsam sind und Mühe haben, ihr Leben zu
gestalten. Dass es so viele Holzwege gibt, auf die man sich immer wieder
begibt. Und immer wieder auch eine Weiterentwicklung, an deren Ende man sich
selbst hoffentlich aufrichtig gerne leiden mag.
Vielen Dank für das
Gespräch, Frau Ranitzki.
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